Neuro-Athletik (Brain Based Movement): Erkenntnisse von Sportlern für Menschen mit MS nutzen (Teil 2)

Im letzten Beitrag „Therapie mit allen Sinnen: Neuro-Athletik (hirnbasiertes Training)“ haben wir erklärt, dass unser Gehirn Sinneswahrnehmungen aus vielen verschiedenen Kanälen benötigt (Hören, Sehen, Fühlen,…) , um die nächsten Schritte  (in Abhängigkeit von der Wahrnehmung der Sinnesreize im Umfeld, von der bestehenden physiologischen Situation im Körper, sowie von der Qualität der Verarbeitung dieser Reize durch das Gehirn) sicher bestimmen zu können. Dies bezieht sich sowohl auf die nächsten Handlungen (Flucht, Kampf, Ruhe) als auch darauf, wirkliche Schritte zu gehen.
Wenn nicht mehr all diese Sinneswahrnehmungen zum Gehirn durchdringen können (weil durch eine neurologische Ursache z.B. das Gefühl für eine Hand oder ein Bein eingeschränkt oder gar nicht mehr vorhanden ist), verliert das Gehirn an Orientierung und damit an Sicherheit, die nächsten Schritte zu planen – d.h. auch die nächsten motorischen Aktionen und damit haben wir nicht nur weniger Gefühl in der einen Hand/dem einen Bein sondern in Folge auch vielleicht weniger Motorik(-möglichkeiten) in dieser Hand/diesem Bein – können also weniger gut greifen/halten/schreiben oder schlechter den Fuß heben/gehen usw.
Solche Bewegungsdefizite wiederum binden auch geistige Ressourcen, und es kann ein Teufelskreis entstehen, der uns immer weniger agil werden lässt. Normales Training/Physiotherapie kann diesen Kreislauf nur unzureichend durchbrechen, wenn nicht auch ein Fokus auf die Sinneswahrnehmungen – und damit vor allem auf bestimmte Hirnfunktionen – gelenkt wird.
Auch muskuläre Defizite beginnen nämlich im Hirn (Muskeln sind nur die ausführenden „Dienstleister“ des Gehirns) und auch solche Defizite (und nicht nur kognitive) können auch vorrangig nur dort im Gehirn behoben werden: durch die ganzheitliche Integration von Augen, Gleichgewicht, Atmung und Bewegung…

Foto mit Darstellung eines sogenannten Homunculus
Der sogenannte Homunculus zeigt die Körperstellen, die die meiste Berührung erfahren bzw. am meisten benutzt werden (nämlich Hände, Lippen und Zunge). Diese verfügen auch im Hirn über die größten Areale.

“Training” ist sinnvoller und effizienter, wenn es dort stattfindet, wo Bewegung entsteht: im Gehirn.

Ziel ist es, durch Neuroathletik die Kommunikation zwischen Gehirn und Körper zu verbessern und damit auch die Bewegung, die Körperstabilität, das Gleichgewicht und vieles mehr (und so auch z.B. das Sturzrisiko zu verringern).

Da Bewegung aber nicht nur komplex ist sondern auch sehr individuell, kann man mit standardisierten Trainingsprogrammen leider nur begrenzt bessere Ergebnisse erzielen. 
Neurozentriertes Training dagegen sollte ganz individuell erfolgen und eignet sich besonders bei (z.B. durch MS bedingte) Einschränkungen. Neurozentriertes Training funktioniert daher auch für Geh-Eingeschränkte oder Menschen im Rollstuhl – und bringt nicht nur Sportler (und die Profis unter denen) zu mehr Leistung und Können.
Denn egal, was wir im Training oder in der Therapie tun, das Nervensystem ist immer beteiligt. Die Frage ist, wie bewusst und gezielt wir die neuronalen Aspekte einbeziehen.

Kommt es zu Lücken in der neuronalen Weiterleitung (z.B. durch auch nur einen eingeschränkten Sinneswahrnehmungskanal) – und damit zu einer nicht mehr verlässlichen Sicherheit für das Gehirn, was zu tun ist – reagiert der Körper z.B. mit Fehlhaltungen oder Verspannungen (z.B. im Schulter-Nacken-Kopf-Bereich). Genauso wie eine korrekte oder veränderte Körperhaltung hat z.B. auch die Kopfposition einen Einfluss z.B. auf das Gleichgewicht und umgekehrt.
Und jeder Mensch (ob Sportler oder nicht) braucht ein funktionierendes Gleichgewichtssystem. Gibt es hier Defizite, ergreift mein Gehirn vielleicht sogar weitere „Sicherheitsmaßnahmen“, um Überlastung zu vermeiden. Nicht nur die Muskeln verkrampfen, diese und der Mensch selbst sind evtl. schneller erschöpft, das Erinnerungsvermögen lässt nach usw.

Je besser aber die Kommunikation zwischen Umwelt, Gehirn und Körper funktioniert, desto geringer wird das Risiko für Verletzungen, Fatigue, degenerativen Abbau und viele andere Aspekte.

Sensorik kommt vor der Motorik

Das Gehirn folgt dem Muster „Sensorik vor Motorik“. Ungünstig, wenn man gerade in der Sensorik Defizite hat. Auch deshalb ist es für Menschen mit Multipler Sklerose gut, dass beim neurozentrierten Training (Neuro-Athletik) nicht die Muskeln, Sehnen/Bänder oder die Kondition trainiert werden. Stattdessen werden die verschiedenen Wahrnehmungsorgane trainiert – und damit z.B. das Gleichgewicht. Und dies viel effektiver als z.B. mit üblichem Gleichgewichtstraining.

Das gezielte Training der Seh- und Hörfähigkeit spielt hierbei eine sehr wichtige Rolle. 
Und zuvor noch das Atemtraining!!! Viele Menschen atmen zu flach – aufgrund von Stress, Bewegungsmangel oder einfach aus Gewohnheit. Den Organen steht dann nicht nur weniger Sauerstoff zur Verfügung, sondern je flacher die Atmung, desto mehr Stresshormone werden ausgeschüttet. Dies macht uns weniger leistungsfähig, eher energielos oder unruhig. Besser ist ein bewusster, tiefer Atemfluss, der nicht nur über das Zwerchfell (flacher Atemmuskel, der den Brustkorb auf Höhe der unteren Rippenbögen umspannt; vorstellbar wie eine Membran). Für gesunden Atem sollte zusätzlich auch die Rücken-, Nacken- und Bauchmuskulatur integriert sein. Dann spürt man den Atemfluss nicht nur im oberen Brustkorb oder unteren Bauch, sondern in beiden Zonen und auch an den Flanken und vielleicht sogar ein wenig im Rücken.
Solch eine vertiefte Atmung verhilft nicht nur zu mehr Energie im Alltag, sondern ist auch elementar bei der Neuro-Athletik, da wir über die Atmung das Autonome Nervensystem ansprechen und selektiv aktivieren können.
Deswegen beginnen die Übungsbeispiele auch mit dem Atmen bzw. erstmal Vorübungen dazu, um bestimmte Hirnnerven zu aktivieren, die die ausführende Bewegung der Muskulatur steuern.

Einsteigerübungen für zu Hause

Auch wenn die folgenden Übungen sich einfach anhören, überfordern Sie sich nicht. Beginnen Sie jeweils mit einigen Sekunden (solange es angenehm ist) und steigern Sie sich langsam; aber üben Sie mehrmals am Tag. Auch die hierfür benötigte Muskulatur muss langsam trainiert werden:
Summen
Summen trainiert mehr, als man denkt und kann richtig anstrengend werden.

Gurgeln
Auch Gurgeln wird anstrengend, sobald man es mal etwas länger als nach dem Zähne putzen macht. Und es ist enorm effektiv, denn es trainiert nicht nur die hintere Rachenmuskulatur (besonders wichtig bei Schnarchern).

Zungenübungen

a) Zungenpendel: Pendeln Sie mit Ihrer Zunge von Seite zu Seite im geschlossenen Mund. Solange, bis Sie spüren, dass Ihre Zunge ein Muskel ist, der nach einer Weile dann genug von der Anstrengung hat. Üben Sie auch dies mehrfach täglich.
Steigerung: Summen Sie beim Pendeln.


b) Zungenkreisen: Lassen Sie Ihre Zunge im geschlossenen Mund kreisen. So lange, bis es trotz Richtungswechsel unangenehm wird. Versuchen Sie auch hier, nach ein paar Tagen die Übungszeit zu verlängern. Nehmen Sie danach als Steigerung das Summen mit hinzu.  

Die Zunge liefert wahrscheinlich mehr sensorische Informationen ans Gehirn als der gesamte Rumpf. Wird sie stimuliert, aktiviert das wichtige motorische und sensorische Bereiche und Nerven im Stammhirn.
Tatsächlich dient die Zunge als effektive Schnittstelle, um Signale an das zentrale Nervensystem zu senden.
Die US-Arzneimittelbehörde hat 2021 sogar einen Neuromodulationsstimulator der Zunge zur Behandlung von Gangstörungen genehmigt. In einer Pilotstudie mit 20 Multiple-Sklerose-Patientinnen und -Patienten verstärkte ein solches sensorisches „Vorbahnen“ nämlich Übungen, die das Gangbild verbessern.
18 Studienteilnehmer erreichten bei Extensions- und Flexionsübungen ihrer Knie ein 30 Prozent höheres Drehmoment, wenn sie ihre Zunge an den Gaumen drückten. Erneut soll die Zunge motorische Gehirnareale aktivieren. »Bei Kraftanstrengungen pressen wir die Luft in der Lunge unwillkürlich zusammen – ähnlich einem Valsalva-Manöver«, sagt Neurowissenschaftler Stefan Schneider. Bei dieser Atemtechnik, die jeder von uns vom Druckausgleich im Flugzeug kennt, legt man die Zunge an den Gaumen und verschließt den Ausgang der Luftröhre, um durch Anspannung der Atemmuskulatur Druck aufzubauen. »Daraus lässt sich aber nicht folgern, dass vorherige Zungenübungen einen kausalen Effekt auf eine spätere Kraftanstrengung haben«, sagt der Kölner Sportmediziner Stefan Schneider.

4×4-Atmung

Tief durch die Nase einatmen (möglichst bis zum unteren Becken) und dabei bis 4 zählen.
Wenn die Bauchdecke maximal gewölbt ist, die Luft anhalten. Erneut von 1 bis 4 zählen.
Nun langsam während 4 Zähleinheiten über die Nase ausatmen.
Es folgt eine bewusste Atempause, während der wir wieder bis 4 zählen.
Erst danach wieder einatmen und von vorne beginnen.
Also immer im Muster: Einatmen über 4 Zähleinheiten, Atempause über 4 Zähleinheiten, Ausatmen über 4 Zähleinheiten, Atempause über 4 Zähleinheiten.
Mehrfach wiederholen; zu Beginn vielleicht nur ein paar Mal; später dann vielleicht bis zu 3 Minuten oder die Zähleinheiten langsam vergrößern (also jeweils bis 5 zählen, bis 6, 7 oder bei fortgeschrittenem Können sogar bis jeweils 8 zählen).


Dies waren ein paar einfache Übungen für den Einstieg zu Hause. Danach kann man in einem professionell angeleiteten Training weiterführende Übungen individuell an den eigenen Körper/das eigene Problem angepasst erarbeiten. Denn Neuroathletik ist so viel mehr als  Zungenkreisen, Blicksprünge und Augenliegestütz (zwei weitere der wichtigen Grundübungen).
Neuroathletik sollte herkömmliches Training nicht ersetzen, sondern integriert werden. Wenn durch Neuroathletiktraining zuerst das Nervensystem auf Hochtouren gebracht ist, ist auch das herkömmliche Training erfolgversprechender.

Fazit

Es müssen nicht immer komplizierte und komplexe Übungen sein. Viele der Übungen wirken anfangs ungewöhnlich und viele Trainierende sind überrascht, dass vermeintlich kleine Änderungen bei Routineübungen und alltäglichen Situationen zu so großen Verbesserungen führen. 
Durch ergänzendes neurozentriertes Training lassen sich unter anderem Haltung, Gangbild und Tremor weiter verbessern – zumindest kurzfristig. 
Natürlich müssen die Übungen regelmäßig gemacht werden, sonst sind die Effekte auch schnell wieder verschwunden. 
Deswegen übt man am besten unter Anleitung über einen längeren Zeitraum regelmäßig 1x (40-60 Minuten) pro Woche.
 Im Schnitt soll man zu Hause dann noch drei bis vier verschiedene Übungen täglich fünf- bis sechsmal durchführen. Das hört sich nach viel an, ist aber in wenigen Minuten pro Übungseinheit zu schaffen.

Nachtrag: Doch nur Placebo-Effekt?

Die Wirksamkeit von Neuroathletiktraining ist noch nicht ausreichend untersucht und bisher existieren keinerlei wissenschaftliche Studien, die bildgebend, physiologisch oder auf Basis von Neurotransmittern gegebenenfalls zu erwartende Trainingseffekte belegen.
Effekte können recht schnell kommen. Leider dauern sie nicht immer lange an. Deswegen ist ein ausschließlicher Einsatz von der Neuroathletik nicht ausreichend. Vielmehr unterstützt diese Methode positive Effekte des herkömmlichen Trainings auch in Form eines Warm-up und macht dieses deutlich effizienter… 
30 bis 40 Tage dauert es, bis sich das Nervensystem an neue Reize anpasst, wenn die Trainingsübung regelmäßig ausgeführt wird.
Trotzdem lohnt es sich, mit dem Üben anzufangen. Und da das Hirn verlässlichere Informationen bekommt, wenn es vom gesamten Körper auch über die Haut regelmäßig zuverlässige Informationen erhält, ist die wichtigste (aber nicht für jeden Menschen einfachste) „Übung“ diese: Massieren Sie möglichst den kompletten Körper mehrmals täglich. Lassen Sie sich oft von lieben Personen umarmen und streicheln. Berührung tut eben nicht nur der Seele gut, sondern stärkt über viele – oben leider nur kurz angerissene – komplexe Prozesse indirekt das Gleichgewicht und unsere Beweglichkeit.

Mehr kleine Übungsbeispiele folgen wahrscheinlich auch in einem späteren Beitrag hier mit dem Erfahrungsbericht aus dem ersten Neuro-Athletik-Kurs einer von MS Betroffenen.

Bleiben Sie also neugierig auf diesem Kanal.


Ihr Team von Life-SMS


© Foto:  commons.wikimedia.org  

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