Alles nur in meinem Kopf?

Wie Neurozentriertes Training Bewegungseinschränkungen verbessern kann

(Teil 3: Erfahrungsbericht von B. Scholl)

Anfang September starteten wir mit dem aKK (MS-Selbsthilfegruppe) eine mehrwöchige Trainingsserie mit neurozentriertem Training. In der ersten Einheit erwartete uns umfangreiches theoretisches Wissen. Der praktische Teil in dieser ersten Stunde bestand lediglich aus dem Zungenpendel und dem Zungenkreisen (siehe auch letzte Beitrag hier „Neuroathletik Teil 2“ ).

Foto: Visuelle Übung zum Training des Gesichtsfeldes: Man fixiert die kleinst lesbaren Buchstaben in der Blattmitte und versucht (ohne die Augen zu bewegen!!), die äußeren Buchstaben zu lesen. Wer diese nicht alle erkennen kann, hat zwangsläufig Mängel im Gleichgewichtssystem, das auch mit solch einer Übung trainiert werden kann.

Theorie bringt Verstehen – und erkennen, was ich für mein individuelles Defizit üben muss

Als uns in der nächsten Stunde wiederum viel Theorie erwartete, dämmerte mir allmählich, dass es sich hier nicht nur um irgendein Training handelt. Ziel ist hier vielmehr, bestimmte neuronale Areale zu stimulieren und deren Funktionen dafür zu nutzen, die gewünschten Ziele im Bewegungsapparat zu erreichen. Das ist eine komplexere Herangehensweise als die gewohnten und bekannten Formen von u. a. Physiotherapie.
Denn es geht im NZT nicht nur darum, einen bestimmten Bereich der physischen Aktivität zu bereichern. Ziel ist eine veränderte – komplexere – Sicht auf unsere Fähigkeit sich zu bewegen und im Zuge des Trainings Ziele zu definieren und zu erreichen. Das funktioniert gleichermaßen für den Leistungssportler wie auch für neurologisch geforderte Physiotherapie-Patienten.
Dabei wird das Rad nicht wirklich neu erfunden. Viele der Übungen sind aus anderen Disziplinen bekannt (Kampfsport, Logopädie, Yoga, Taiji/Qi Gong …). Was ich hier jedoch anders empfinde, ist, dass die Selbsteinschätzung eine große Rolle spielt. So ermunterte uns der Trainer Konstantin vor fast jeder Übung, die jeweilige physische Ausgangslage zu erfassen.
Für mich ist es eine große Herausforderung, diese Art, mit mir umzugehen, in meine Routinen zu integrieren. Aber wie bei vielen Veränderungen ist es einfach mal gut anzufangen. Ich muss ja nicht gleich ein täglich halbstündiges Programm in meinen ohnehin schon üppig gefüllten Tagesablauf integrieren.

Mein Fahrplan

Damit ich den Überblick behalte, habe ich mir einen „Fahrplan“ gemacht, also: Wo soll diese Reise hingehen? Ich komme mit so einer Zielvorgabe gut zurecht, ich habe ja nicht die Absicht, das in kürzester Zeit umzusetzen, das würde mir auch Stress machen und das tut einfach nicht gut.

Mein Plan für irgendwann einmal ist:

  • Vorbereitung
    • Zungenübungen, Summen, Gurgeln (siehe auch …)
    • Aktvierung der Schulter- und HWS-Muskulatur mit Schulterkreisen
    • Mobilisierung des Zwerchfells mit tiefer Bauchatmung. Die kann man mit dem Anheben der Arme bei der Einatmung unterstützen.
  • Feststellen: Wie ist meine Ausgangslage?
    • Entweder mit dem „Romberger Test“; den kenne ich in der Art von neurologischen Untersuchungen: Mit geschlossenen Füßen einfach „nur“ stehen und wahrnehmen wie es um die Aufrichtung und Stabilität steht (hat der Körper z. B. die Tendenz sich zu einer Seite zu neigen? Gibt es Sensibilitätsstörungen? Usw.). Stehe ich da stabil, bleibe ich in der Haltung mit geschlossenen Augen und wiederhole die Selbstbeobachtung.
oder
    • Rumpfvorbeuge: Hier identifiziere ich als Ausgangspunkt, auf welcher Höhe ich meine Beine berühren kann (Knie, Schienbein, Fußgelenke …)

      oder
    • Finger-zu-Nase: Mit geschlossenen Augen die Arme waagerecht ausbreiten und mit einem Zeigefinger die Nasenspitze berühren (nacheinander mit dem linken und rechten Zeigefinger, Reihenfolge ist unerheblich). Hier ist entscheidend, wie gut das klappt.
  • Lockern

    Mobilisierung des Körpers von unten nach oben. Zunächst den Körper in den Fußgelenken hin und her wiegen. Dann auf Höhe der Knie, dann auf Hüfthöhe, dann Taillenhöhe, Brustkorb, Schultern und zum Schluss nur den Kopf hin und her wiegen. Nur so weit bewegen, wie es geht und auch gut tut. Es reicht, den Körper zwei bis fünf Mal zu jeder Seite zu bewegen.
  • Üben
    Ich habe mir vorgenommen zunächst mehr mit visuellen Reizen zu arbeiten. Das wirkt sich gleichzeitig positiv auf das Gleichgewichtssystem aus!:
    • Augen bewegen sich an Linien (ähnlich wie z.B. bei einem „Spinnennetz“) und nur die Augen bewegen sich, der Kopf bewegt sich nicht
    • Augen fixieren ein bewegtes Ziel, z.B. einen Stift, der währenddesen hoch, runter, links, rechts, vor, zurück und diagonal bewegt wird.
    • Augen fixieren festes Ziel und ich bewege mich darauf zu. Ich suche mir einen Punkt, den ich mit den Augen erfasse und bewege mich darauf zu (völlig egal ob zu Fuß oder per Rolli).
Die Übung bekommt eine andere Qualität, wenn ich sie mit zur Seite geneigtem Kopf durchführe. Idealerweise einmal zu jeder Seite geneigt.
  • Abgleich mit der Ausgangslage

    Jetzt wird es spannend, denn jetzt wiederhole ich den Test vom Beginn und vergleiche, ob und was sich verändert hat.

Integration in den Alltag

Als der Plan dann stand, stellte ich fest, dass ich einiges schon in anderen Situationen bereits regelmäßig mache: Die Boxatmung beim Meditieren, Qi Gong und Taiji. Die Mobilisierung des Zwerchfells bei der Logopädie. Ebenso das Gurgeln; Zungenpendel und -kreisen passt zu meinen Übungsroutinen in der Logopädie.
Jetzt muss ich „nur noch“ eine zu mir passende Systematik finden, den Fokus auf das neurozentrierte Training zu integrieren.

Jetzt sind die Symptome bei jedem sehr individuell. Genauso verhält es sich ja auch mit den Therapieansätzen und jeweiligen Tagesabläufen. Ich denke, dass jede und jeder von uns die Möglichkeiten dieser Selbstbeobachtung und Trainings nutzen und Stück für Stück an den eigenen Tagesablauf anpassen kann.

Ich habe jetzt überwiegend visuelle Übungen beschrieben. Darüber hinaus gibt auch sensorische Übungen sowie die, die das Gleichgewicht noch spezieller schulen.

Fazit

Es ist durchaus möglich, dass es Übungen gibt, die die Ausgangslage nicht wie gewünscht verbessern (oder gar verschlechtern). Es kam zwar selten vor, aber es kam vor. Dann nicht den Kopf hängen lassen, sondern eine andere Übung ausprobieren. Das kann muss aber nicht sofort sein.

Es gibt weiterhin viel in meinem Körper zu entdecken und auszuprobieren. Über kurz oder lang werde ich mir sicher Fachliteratur mit praktischen Anleitungen zulegen und auch diesen Ansatz mit meinem Physiotherapeuten besprechen. Dann verändert sich hoffentlich die eine oder andere Baustelle in meinem Körper mit Hilfe meines Kopfes.

Ich finde es sehr schön, dass es keine festen Abläufe bei diesem Training gibt. Das erfordert allerdings Selbstwahrnehmung, Motivation und Eigenverantwortung. Positiv empfinde ich auch, dass ich auch „so nebenbei“ ein paar Dinge üben kann. So lässt sich das Zungenpendel z.B. gut an einer roten Ampel üben.


Wir hoffen, Ihnen hat dieser Erfahrungsbericht einer von MS Betroffenen aus dem ersten Kurs zu Neuro-Athletik gefallen.

Mehr kleine Übungsbeispiele z.B. hier… (in den Videos weiter unten!)

Wir hoffen auf die Weiterentwicklung der Nutzung gesundheitsorientierter Sport- und Bewegungsprogramme gerade auch für die Nicht-Leistungssportler unter uns ,-)

Vielleicht machen Sie nun beim Schlange stehen eine Atemübung, die Ihnen nicht nur die Wartezeit kürzer erscheinen lässt, sondern einen wirklichen Mehrwert für Ihr Sauerstoff- und Energiesystem hat; z.B. die 4×4-Atmung aus Teil 2 der hiermit endenden Serie über Neuro-Athletik und bleiben Sie weiterhin neugierig auf diesem Kanal…

Ihr Team von Life-SMS


© Foto:  aKK-Hildy (und die Abgebildeten) 

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Neuro-Athletik (Brain Based Movement): Erkenntnisse von Sportlern für Menschen mit MS nutzen (Teil 2)

Im letzten Beitrag „Therapie mit allen Sinnen: Neuro-Athletik (hirnbasiertes Training)“ haben wir erklärt, dass unser Gehirn Sinneswahrnehmungen aus vielen verschiedenen Kanälen benötigt (Hören, Sehen, Fühlen,…) , um die nächsten Schritte  (in Abhängigkeit von der Wahrnehmung der Sinnesreize im Umfeld, von der bestehenden physiologischen Situation im Körper, sowie von der Qualität der Verarbeitung dieser Reize durch das Gehirn) sicher bestimmen zu können. Dies bezieht sich sowohl auf die nächsten Handlungen (Flucht, Kampf, Ruhe) als auch darauf, wirkliche Schritte zu gehen.
Wenn nicht mehr all diese Sinneswahrnehmungen zum Gehirn durchdringen können (weil durch eine neurologische Ursache z.B. das Gefühl für eine Hand oder ein Bein eingeschränkt oder gar nicht mehr vorhanden ist), verliert das Gehirn an Orientierung und damit an Sicherheit, die nächsten Schritte zu planen – d.h. auch die nächsten motorischen Aktionen und damit haben wir nicht nur weniger Gefühl in der einen Hand/dem einen Bein sondern in Folge auch vielleicht weniger Motorik(-möglichkeiten) in dieser Hand/diesem Bein – können also weniger gut greifen/halten/schreiben oder schlechter den Fuß heben/gehen usw.
Solche Bewegungsdefizite wiederum binden auch geistige Ressourcen, und es kann ein Teufelskreis entstehen, der uns immer weniger agil werden lässt. Normales Training/Physiotherapie kann diesen Kreislauf nur unzureichend durchbrechen, wenn nicht auch ein Fokus auf die Sinneswahrnehmungen – und damit vor allem auf bestimmte Hirnfunktionen – gelenkt wird.
Auch muskuläre Defizite beginnen nämlich im Hirn (Muskeln sind nur die ausführenden „Dienstleister“ des Gehirns) und auch solche Defizite (und nicht nur kognitive) können auch vorrangig nur dort im Gehirn behoben werden: durch die ganzheitliche Integration von Augen, Gleichgewicht, Atmung und Bewegung…

Foto mit Darstellung eines sogenannten Homunculus
Der sogenannte Homunculus zeigt die Körperstellen, die die meiste Berührung erfahren bzw. am meisten benutzt werden (nämlich Hände, Lippen und Zunge). Diese verfügen auch im Hirn über die größten Areale.

“Training” ist sinnvoller und effizienter, wenn es dort stattfindet, wo Bewegung entsteht: im Gehirn.

Ziel ist es, durch Neuroathletik die Kommunikation zwischen Gehirn und Körper zu verbessern und damit auch die Bewegung, die Körperstabilität, das Gleichgewicht und vieles mehr (und so auch z.B. das Sturzrisiko zu verringern).

Da Bewegung aber nicht nur komplex ist sondern auch sehr individuell, kann man mit standardisierten Trainingsprogrammen leider nur begrenzt bessere Ergebnisse erzielen. 
Neurozentriertes Training dagegen sollte ganz individuell erfolgen und eignet sich besonders bei (z.B. durch MS bedingte) Einschränkungen. Neurozentriertes Training funktioniert daher auch für Geh-Eingeschränkte oder Menschen im Rollstuhl – und bringt nicht nur Sportler (und die Profis unter denen) zu mehr Leistung und Können.
Denn egal, was wir im Training oder in der Therapie tun, das Nervensystem ist immer beteiligt. Die Frage ist, wie bewusst und gezielt wir die neuronalen Aspekte einbeziehen.

Kommt es zu Lücken in der neuronalen Weiterleitung (z.B. durch auch nur einen eingeschränkten Sinneswahrnehmungskanal) – und damit zu einer nicht mehr verlässlichen Sicherheit für das Gehirn, was zu tun ist – reagiert der Körper z.B. mit Fehlhaltungen oder Verspannungen (z.B. im Schulter-Nacken-Kopf-Bereich). Genauso wie eine korrekte oder veränderte Körperhaltung hat z.B. auch die Kopfposition einen Einfluss z.B. auf das Gleichgewicht und umgekehrt.
Und jeder Mensch (ob Sportler oder nicht) braucht ein funktionierendes Gleichgewichtssystem. Gibt es hier Defizite, ergreift mein Gehirn vielleicht sogar weitere „Sicherheitsmaßnahmen“, um Überlastung zu vermeiden. Nicht nur die Muskeln verkrampfen, diese und der Mensch selbst sind evtl. schneller erschöpft, das Erinnerungsvermögen lässt nach usw.

Je besser aber die Kommunikation zwischen Umwelt, Gehirn und Körper funktioniert, desto geringer wird das Risiko für Verletzungen, Fatigue, degenerativen Abbau und viele andere Aspekte.

Sensorik kommt vor der Motorik

Das Gehirn folgt dem Muster „Sensorik vor Motorik“. Ungünstig, wenn man gerade in der Sensorik Defizite hat. Auch deshalb ist es für Menschen mit Multipler Sklerose gut, dass beim neurozentrierten Training (Neuro-Athletik) nicht die Muskeln, Sehnen/Bänder oder die Kondition trainiert werden. Stattdessen werden die verschiedenen Wahrnehmungsorgane trainiert – und damit z.B. das Gleichgewicht. Und dies viel effektiver als z.B. mit üblichem Gleichgewichtstraining.

Das gezielte Training der Seh- und Hörfähigkeit spielt hierbei eine sehr wichtige Rolle. 
Und zuvor noch das Atemtraining!!! Viele Menschen atmen zu flach – aufgrund von Stress, Bewegungsmangel oder einfach aus Gewohnheit. Den Organen steht dann nicht nur weniger Sauerstoff zur Verfügung, sondern je flacher die Atmung, desto mehr Stresshormone werden ausgeschüttet. Dies macht uns weniger leistungsfähig, eher energielos oder unruhig. Besser ist ein bewusster, tiefer Atemfluss, der nicht nur über das Zwerchfell (flacher Atemmuskel, der den Brustkorb auf Höhe der unteren Rippenbögen umspannt; vorstellbar wie eine Membran). Für gesunden Atem sollte zusätzlich auch die Rücken-, Nacken- und Bauchmuskulatur integriert sein. Dann spürt man den Atemfluss nicht nur im oberen Brustkorb oder unteren Bauch, sondern in beiden Zonen und auch an den Flanken und vielleicht sogar ein wenig im Rücken.
Solch eine vertiefte Atmung verhilft nicht nur zu mehr Energie im Alltag, sondern ist auch elementar bei der Neuro-Athletik, da wir über die Atmung das Autonome Nervensystem ansprechen und selektiv aktivieren können.
Deswegen beginnen die Übungsbeispiele auch mit dem Atmen bzw. erstmal Vorübungen dazu, um bestimmte Hirnnerven zu aktivieren, die die ausführende Bewegung der Muskulatur steuern.

Einsteigerübungen für zu Hause

Auch wenn die folgenden Übungen sich einfach anhören, überfordern Sie sich nicht. Beginnen Sie jeweils mit einigen Sekunden (solange es angenehm ist) und steigern Sie sich langsam; aber üben Sie mehrmals am Tag. Auch die hierfür benötigte Muskulatur muss langsam trainiert werden:
Summen
Summen trainiert mehr, als man denkt und kann richtig anstrengend werden.

Gurgeln
Auch Gurgeln wird anstrengend, sobald man es mal etwas länger als nach dem Zähne putzen macht. Und es ist enorm effektiv, denn es trainiert nicht nur die hintere Rachenmuskulatur (besonders wichtig bei Schnarchern).

Zungenübungen

a) Zungenpendel: Pendeln Sie mit Ihrer Zunge von Seite zu Seite im geschlossenen Mund. Solange, bis Sie spüren, dass Ihre Zunge ein Muskel ist, der nach einer Weile dann genug von der Anstrengung hat. Üben Sie auch dies mehrfach täglich.
Steigerung: Summen Sie beim Pendeln.


b) Zungenkreisen: Lassen Sie Ihre Zunge im geschlossenen Mund kreisen. So lange, bis es trotz Richtungswechsel unangenehm wird. Versuchen Sie auch hier, nach ein paar Tagen die Übungszeit zu verlängern. Nehmen Sie danach als Steigerung das Summen mit hinzu.  

Die Zunge liefert wahrscheinlich mehr sensorische Informationen ans Gehirn als der gesamte Rumpf. Wird sie stimuliert, aktiviert das wichtige motorische und sensorische Bereiche und Nerven im Stammhirn.
Tatsächlich dient die Zunge als effektive Schnittstelle, um Signale an das zentrale Nervensystem zu senden.
Die US-Arzneimittelbehörde hat 2021 sogar einen Neuromodulationsstimulator der Zunge zur Behandlung von Gangstörungen genehmigt. In einer Pilotstudie mit 20 Multiple-Sklerose-Patientinnen und -Patienten verstärkte ein solches sensorisches „Vorbahnen“ nämlich Übungen, die das Gangbild verbessern.
18 Studienteilnehmer erreichten bei Extensions- und Flexionsübungen ihrer Knie ein 30 Prozent höheres Drehmoment, wenn sie ihre Zunge an den Gaumen drückten. Erneut soll die Zunge motorische Gehirnareale aktivieren. »Bei Kraftanstrengungen pressen wir die Luft in der Lunge unwillkürlich zusammen – ähnlich einem Valsalva-Manöver«, sagt Neurowissenschaftler Stefan Schneider. Bei dieser Atemtechnik, die jeder von uns vom Druckausgleich im Flugzeug kennt, legt man die Zunge an den Gaumen und verschließt den Ausgang der Luftröhre, um durch Anspannung der Atemmuskulatur Druck aufzubauen. »Daraus lässt sich aber nicht folgern, dass vorherige Zungenübungen einen kausalen Effekt auf eine spätere Kraftanstrengung haben«, sagt der Kölner Sportmediziner Stefan Schneider.

4×4-Atmung

Tief durch die Nase einatmen (möglichst bis zum unteren Becken) und dabei bis 4 zählen.
Wenn die Bauchdecke maximal gewölbt ist, die Luft anhalten. Erneut von 1 bis 4 zählen.
Nun langsam während 4 Zähleinheiten über die Nase ausatmen.
Es folgt eine bewusste Atempause, während der wir wieder bis 4 zählen.
Erst danach wieder einatmen und von vorne beginnen.
Also immer im Muster: Einatmen über 4 Zähleinheiten, Atempause über 4 Zähleinheiten, Ausatmen über 4 Zähleinheiten, Atempause über 4 Zähleinheiten.
Mehrfach wiederholen; zu Beginn vielleicht nur ein paar Mal; später dann vielleicht bis zu 3 Minuten oder die Zähleinheiten langsam vergrößern (also jeweils bis 5 zählen, bis 6, 7 oder bei fortgeschrittenem Können sogar bis jeweils 8 zählen).


Dies waren ein paar einfache Übungen für den Einstieg zu Hause. Danach kann man in einem professionell angeleiteten Training weiterführende Übungen individuell an den eigenen Körper/das eigene Problem angepasst erarbeiten. Denn Neuroathletik ist so viel mehr als  Zungenkreisen, Blicksprünge und Augenliegestütz (zwei weitere der wichtigen Grundübungen).
Neuroathletik sollte herkömmliches Training nicht ersetzen, sondern integriert werden. Wenn durch Neuroathletiktraining zuerst das Nervensystem auf Hochtouren gebracht ist, ist auch das herkömmliche Training erfolgversprechender.

Fazit

Es müssen nicht immer komplizierte und komplexe Übungen sein. Viele der Übungen wirken anfangs ungewöhnlich und viele Trainierende sind überrascht, dass vermeintlich kleine Änderungen bei Routineübungen und alltäglichen Situationen zu so großen Verbesserungen führen. 
Durch ergänzendes neurozentriertes Training lassen sich unter anderem Haltung, Gangbild und Tremor weiter verbessern – zumindest kurzfristig. 
Natürlich müssen die Übungen regelmäßig gemacht werden, sonst sind die Effekte auch schnell wieder verschwunden. 
Deswegen übt man am besten unter Anleitung über einen längeren Zeitraum regelmäßig 1x (40-60 Minuten) pro Woche.
 Im Schnitt soll man zu Hause dann noch drei bis vier verschiedene Übungen täglich fünf- bis sechsmal durchführen. Das hört sich nach viel an, ist aber in wenigen Minuten pro Übungseinheit zu schaffen.

Nachtrag: Doch nur Placebo-Effekt?

Die Wirksamkeit von Neuroathletiktraining ist noch nicht ausreichend untersucht und bisher existieren keinerlei wissenschaftliche Studien, die bildgebend, physiologisch oder auf Basis von Neurotransmittern gegebenenfalls zu erwartende Trainingseffekte belegen.
Effekte können recht schnell kommen. Leider dauern sie nicht immer lange an. Deswegen ist ein ausschließlicher Einsatz von der Neuroathletik nicht ausreichend. Vielmehr unterstützt diese Methode positive Effekte des herkömmlichen Trainings auch in Form eines Warm-up und macht dieses deutlich effizienter… 
30 bis 40 Tage dauert es, bis sich das Nervensystem an neue Reize anpasst, wenn die Trainingsübung regelmäßig ausgeführt wird.
Trotzdem lohnt es sich, mit dem Üben anzufangen. Und da das Hirn verlässlichere Informationen bekommt, wenn es vom gesamten Körper auch über die Haut regelmäßig zuverlässige Informationen erhält, ist die wichtigste (aber nicht für jeden Menschen einfachste) „Übung“ diese: Massieren Sie möglichst den kompletten Körper mehrmals täglich. Lassen Sie sich oft von lieben Personen umarmen und streicheln. Berührung tut eben nicht nur der Seele gut, sondern stärkt über viele – oben leider nur kurz angerissene – komplexe Prozesse indirekt das Gleichgewicht und unsere Beweglichkeit.

Mehr kleine Übungsbeispiele folgen wahrscheinlich auch in einem späteren Beitrag hier mit dem Erfahrungsbericht aus dem ersten Neuro-Athletik-Kurs einer von MS Betroffenen.

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Ihr Team von Life-SMS


© Foto:  commons.wikimedia.org  

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Therapie mit allen Sinnen: Neuro-Athletik (hirnbasiertes Training) 

Neurozentriertes Training (NZT oder Neuro-Athletik) ist “Athletik für das Hirn und durch das Gehirn”. Trainingsziel ist zwar der ganze Körper, doch wird er vorrangig durch “Gehirntraining” angesteuert. Nein, nicht was einigen schon ein Begriff ist, Hirn-Jogging durch Sudoku und ähnliches. Sondern es werden gezielt die neurologischen Systeme der Wahrnehmung angesprochen…

Die klassischen 5 Sinne (Hören, Sehen, Tasten …) sind Formen der Wahrnehmung, die eine empfundene Tatsache bestätigen (Wasser läuft über meine Haut) – oder dementieren (es ist ein anderes Rinnsal oder gar keines, denn es ist nur das Gefühl, als ob). Unser Gehirn braucht zur  Überlebenssicherung, Gefahrenerkennung und die Vorhersage von Situationen in der Umwelt Informationen in Bezug auf die Lage und Stellung unseres Körpers zur bzw. in unserer Umgebung. Es braucht eine – möglichst vollständige – Orientierung um interagieren und – gegebenenfalls richtig – handeln zu können. Informationen für diese Orientierung bekommt es aber nicht nur über die – bewusste und unbewusste – Sinneswahrnehmung (Exterozeption = Außenwahrnehmung).

Propriozeption (Wahrnehmung der eigenen Körperteile, auch als Tiefensensibilität bezeichnet) liefert die Informationen aus der Bewegung selber (Stellung von Gelenken und deren Veränderung, Lage im Raum, Muskelspannung, Hautwiderstand durch – für obiges Beispiel „Wasser auf der Haut“ – z.B. schnell oder langsam hingleitendes Wasser/Blut/Schweiß etc.). 
Das Gehirn beachtet auch, wie die physiologischen Auslenkungen sind (Blutdruck, Puls, Atemfrequenz, Stoffwechsel, Verdauung) in Anbetracht der Umwelt (Interozeption = Wahrnehmungen aus dem eigenen Körperinneren). Wenn alle Informationen abgeglichen sind, kann es eine Prognose erstellen und eine ggf. daraus folgende motorische Umsetzung ansteuern (fliehen bei Wasserschwall; evtl. Kämpfen bei Verletzung durch Feind oder es ist alles in Ordnung, denn es ist nur Schweiß in Sommerhitze und eine Hängematte die bessere Wahl). 

Defizite haben weitreichende Folgen…

Besteht ein Informationsdefizit, kann dies in gewissem Umfang durch bestehende Systeme kompensiert werden (ich fühle es nicht, sehe aber häufiger hin). Es werden dafür aber permanent mehr und klarere Informationen gebraucht und gesucht. Dies bindet Ressourcen, die dann nicht mehr (oder zumindest nicht gleichzeitig) für scheinbar Nebensächlicheres zur Verfügung stehen – sei es motorischer Art (Beinmuskeln schwächeln etwa) oder z.B. kognitiver Art (Aufmerksamkeit und/oder Erinnerungsvermögen schwächeln z.B.). 

… lassen sich aber ausgleichen

Hat das Gehirn (durch z.B. defizitäre neurologische Erkrankungen wie MS) Lücken – und damit an Sicherheit verloren, können wir durch Neuro-Athletik diese neuronalen Funktionen des Gehirns gezielt stärken, bestehende Defizite eventuell effektiver kompensieren – oder sogar ganz verlorene Funktionen evtl. wieder aufbauen (wie z.B. nach einem Schlaganfall), wenn das Gehirn durch das neurozentrierte Training bei seinen Einschätzungen wieder an Sicherheit gewinnt.

Dann können neben einer besser ausführbaren motorischen Umsetzung (z.B. Fuß besser heben können) auch wieder Ressourcen freigegeben werden (Aufmerksamkeit steht wieder für Anderes zur Verfügung).  

Neuro-Athletik basiert also auf den Grundlagen der Neurologie und ist daher auch keine Zauberei, an die man glauben muss, damit es funktioniert. 

“Training” soll dort geschehen, wo Bewegung (bzw. evtl. Schmerzen; s.u.) entstehen: Im Gehirn; durch die ganzheitliche Integration von Augen, Gleichgewicht, Atmung und Bewegung…
Dabei möglichst viel „Neues“ (zurück-er)lernen und diese Informationen und Bewegungen wieder flüssig in den (unbewussten) Bewegungs-Alltag integrieren. 


In einem der folgenden Beiträge beschreiben wir einfache Übungen für den Einstieg zu Hause – zum Appetit machen z.B. für ein professionell angeleitetes Training.

Und später dann noch einen Erfahrungsbericht aus dem ersten Kurs einer von MS Betroffenen.
Bleiben Sie also neugierig in diesem Kanal.

So lange grüßt Sie

Ihr Team von Life-SMS


© Foto von Geetanjal Khanna auf Unsplash

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