Biotin (auch bekannt als Vitamin B7 oder Vitamin H) ist ein Cofaktor verschiedener Stoffwechselenzyme. Es ist wichtig für den Krebs-Zyklus: eine Reihe von chemischen Reaktionen, die in den Mitochondrien stattfinden, um Energie zu produzieren – genauer gesagt ATP, die Energieversorgung der Zelle. Es ist auch wichtig für die Synthese von Fettsäuren, die das Myelin bilden. In-vitro-Daten aus Astrozyten-Kulturen (die Mehrheit der Gliazellen im zentralen Nervensystem sind Astrozyten) haben zuvor eine therapeutische Wirkung von Biotin auf die Myelin-Integrität nahegelegt.
Hohe Dosen von Biotin haben sich als therapeutische Option bei der sogenannten „Biotin responsive basal ganglia disease“ erwiesen, einer neuro-metabolischen Erkrankung, die durch Mutationen im SLC19A3-Gen, das für einen Thiamintransporter kodiert, verursacht wird (1). Patienten mit Optikusneuropathien und Leukoenzephalopathien (Erkrankungen der weißen Substanz des Gehirns) sprachen ebenfalls auf hochdosiertes Biotin (HDB) an, was auf eine neue Form der „biotin-sensitiven Leukodystrophie“ schließen lässt (2).
Basierend auf diesen Beobachtungen wurde die Hypothese aufgestellt, dass die Verabreichung von hochdosiertem Biotin (HDB) die Myelinreparatur fördert und vor Neurodegeneration schützt. Infolgedessen könnte es eine Behandlungsstrategie für progressive Multiple Sklerose (PMS) darstellen.
Im Jahr 2015 wurden in einer französischen Open-Label-Pilotstudie 23 Patienten mit PMS (entweder primär oder sekundär) mit 100 bis 600 mg/d (einer extrem hohen Dosis) Biotin für 2 bis 36 Monate (durchschnittlich 9 Monate) behandelt. Die Ergebnisse legten nahe, dass Biotin bei einigen Patientinnen die klinischen Folgen verbessern und den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen könnte (3).
Im Jahr 2016 wurde eine randomisierte Studie veröffentlicht (die MS-MPI-Studie), die zeigte, dass 300 mg Biotin pro Tag in der Lage war, MS-bedingte Behinderungen bei 12,6 % der PMS-Patienten rückgängig zu machen und das Fortschreiten der Krankheit zu verringern (basierend auf EDSS). Dies war die einzige erfolgreiche Phase-3-Studie mit einem Medikament, von dem man annahm, dass es über einen anderen Mechanismus als Immunmodulation oder Immunsuppression wirkt. Dies wurde von den MS-Forschern als sehr bedeutsam erachtet und stimulierte weitere Studien, um die Wirksamkeit der Behandlung zu beweisen. Außerdem war Biotin sehr gut verträglich – es wurden keine Nebenwirkungen beschrieben. Es gab nur eine wichtige Sicherheitsbeobachtung: HDB interferiert mit Biotin-basierten Labortests und kann daher das Schilddrüsenscreening, den Troponin-Test (Herzinfarktdiagnose) und andere Tests verändern. Es wurde auch über eine höhere Anzahl neuer oder sich vergrößernder MRI-Läsionen (Magnetresonanztomographie) in der Gruppe berichtet, die Biotin erhielt (ohne klinische Korrelation), was Bedenken hinsichtlich einer möglichen pro-inflammatorischen Wirkung von Biotin aufkommen ließ (4).
Seitdem sind verschiedene Studien mit kontroversen Ergebnissen veröffentlicht worden. In einigen Studien zeigte die Behandlung mit HDB eine Verbesserung der neurologischen Symptome oder eine Verzögerung der Progressionsrate. Andere Studien beschrieben keine Effekte oder sogar eine erhöhte Krankheitsaktivität (wie mehr aktive Läsionen im MRT) in der Interventionsgruppe.
Eine neue Phase-3-Studie (die SP12-Studie) wurde konzipiert, um die in der MS-SPI-Studie gemachten Beobachtungen zu replizieren und zu erweitern: die Verbesserung der Behinderungsergebnisse bei Patienten mit PMS. Es waren dieselben Autoren der vorherigen Studie beteiligt und sie waren sich ziemlich sicher, dass ähnliche Ergebnisse erzielt werden würden. Also wurden 642 Patienten randomisiert, um 2 Jahre lang das gleiche HDB-Medikament (MD1003) zu erhalten, das in der MS-SPI-Studie verwendet wurde. Die Ergebnisse wurden im November 2020 veröffentlicht, aber sie waren leider enttäuschend – HDB zeigte keine Vorteile im Vergleich zu Placebo und die Autoren kamen zu dem Schluss, dass HDB nicht zur Behandlung von PMS empfohlen werden kann (5).
Ist das das Ende des Weges mit Biotin in der MS-Behandlung?
Es gibt einige Punkte zu beachten:
- Die in all diesen Studien verwendete Dosis ist eine extrem hoch. In der Nahrung wird Biotin in Mikrogramm gefunden und in den meisten Nahrungsergänzungsmitteln, ist es nicht höher als 10 mg (10.000 mcg) dosiert. Aber die durchschnittliche Dosis, die in den Studien verwendet wurde, betrug 300 mg (300.000 mcg!!!). Vielleicht war das zu viel und ggf. spielt Biotin eine Rolle bei MS, aber nicht in einer so hohen Dosis. Als B-Vitamin ist es auf jeden Fall relevant für die Nervengesundheit.
- Es stimmt, dass die überwiegende Mehrheit der Personen mit PPMS in verschiedenen Kohorten nicht auf eine Biotintherapie ansprach. Aber auch in den Studien mit „negativen“ Ergebnissen, d. h. ohne statistisch relevante Nachweise, zeigten einige Patientinnen und Patienten eine Verbesserung der klinischen und/oder evolutiven Parameter.
- Biotinidase-Mangel: Biotinindase ist ein Enzym, das für die Abspaltung von Biotin aus körpereigenen und Nahrungsproteinen verantwortlich ist, um es für Stoffwechselreaktionen zu nutzen. Biotinidase-Mangel ist eine genetische Störung, die zu einem unterschiedlich starken Biotinmangel führt. Es gibt eine zunehmende Anzahl von Berichten über Personen, bei denen zunächst angenommen wurde, dass sie an Multipler Sklerose oder verwandten Krankheiten litten, die aber tatsächlich einen tiefgreifenden Biotinidase-Mangel hatten und auf eine relativ hohe Biotin-Dosis (10-20 mg/Tag) ansprachen (6,7). Es ist leicht zu vermuten, dass die in Studien eingeschlossenen Patienten, die auf eine Biotintherapie ansprachen, wahrscheinlich nicht an PPMS, sondern an Biotinidase-Mangel oder beidem litten. Aus diesem Grund sollte allen Patienten, die auf MS untersucht werden, ein enzymatischer Serumtest auf Biotinidase-Mangel vorgeschlagen werden. Könnte also ein Biotinidase-Mangel die in früheren MS/HDB-Studien beobachteten Fälle von Besserung erklären? Diese Frage muss noch beantwortet werden.
- Der Einfluss der HDB-Therapie auf Laborwerte ist nicht zu unterschätzen. Nicht nur Schilddrüsenhormon-Tests, sondern auch Prostata-Antigen und Vitamin D sind betroffen. Schwerwiegendere Folgen kann der Einfluss auf Troponin-Messungen haben, die zur Diagnose eines Herzinfarkts verwendet werden. In diesem Fall kann die Fehldiagnose eines solchen medizinischen Notfalls schwerwiegende Folgen haben.
Fazit:
Biotin ist wichtig für den Stoffwechsel der Nervenzellen und die Integrität des Myelins. Es kann eine Rolle bei der Behandlung von MS spielen, aber eine extrem hohe Dosis kann einen Umkehreffekt haben, die Entzündungsreaktion und die Krankheitsaktivität erhöhen. Bisher gibt es nicht genügend Beweise, um HDB für die Behandlung von PPMs einzusetzen, aber es kann die Symptome bei einer kleinen Gruppe von Patienten verbessern. Patienten, die an Biotinidase-Mangel leiden, werden sicherlich von einer Biotin-Behandlung profitieren, und da diese genetische Erkrankung MS-Symptome nachahmen kann, sollte der Genfehler bei allen MS-Patienten untersucht werden. Bitte beachten Sie unbedingt, dass HDB einige Labortests, einschließlich Schilddrüsenwerte und Herzenzyme, verändern kann.
Betroffene, die bisher positive Erfahrungen mit HDB gemacht haben, sollten insofern unbedingt untersuchen lassen, ob Sie unter einem Biotinidase-Mangel leiden und dann mit ärztlicher Begleitung die Biotineinnahme – in einer nachjustierten Dosierung – fortführen.
Abschließend ist hinzufügen, dass frühere Artikel zu diesem Thema auf diesem Kanal veraltet sind und nicht mehr den aktuellen Wissensstand wiedergeben. Aber das ist eine Eigenschaft wissenschaftlicher Ergebnisse. Sie müssen immer sorgfältig geprüft und wenn nötig in Frage gestellt werden. Trotzdem werden wir hier immer auch über neueste Forschungen berichten, damit Betroffene Chancen zu einem frühen Zeitpunkt erkennen und eigenverantwortlich mit entsprechender therapeutischer Begleitung wahrnehmen können.
Referenzen:
- Tabarki, B et al. Biotin-responsive basal ganglia disease revisited Clinical, radiologic and genetic findings. Neurology Jan 2013, 80 (3) 261-267
- Sedel, F et al. A novel biotin sensitive leukodystropy. J Inherit Metab. Dis 2011; 34-S267
- Sedel F et al. High doses of biotin in chronic progressive multiple sclerosis: a pilot study. Mult Scler Relat Disord. 2015 Mar;4(2):159-69.
- Tourbah, A et al. MD1003 (high-dose biotin) for the treatment of progressive multiple sclerosis: A randomized, double-blind, placebo-controlled study. Multi Scler 2016 Nov; 22(13):1719-1731
- Cree BAC et al. Safety and efficacy of MD1003 (high-dose biotin) in patients with progressive multiple sclerosis (SPI2): a randomised, double-blind, placebo-controlled, phase 3 trial. Lancet Neurol. 2020 Dec;19(12):988-997.
- Bottin L e al. Biotinidase deficiency mimicking neuromyelitis optica: Initially exhibiting symptoms in adulthood. Mult Scler. 2015 Oct;21(12):1604-7
- Deschamps R. Adult-onset biotinidase deficiency: two individuals with severe, but reversible optic neuropathy. J Neurol Neurosurg Psychiatry. 2018 Sep;89(9):1009-1010.
- Wolf B. Any individual with multiple sclerosis who markedly improves neurologically with high-doses of biotin should be evaluated for biotinidase deficiency. Mult Scler J Exp Transl Clin. 2020 Apr 29;6(2):205.
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