Eine schwelende Krankheit – MS in einer neuen Perspektive

Irgendetwas schwelt…

Eine schwelende Krankheit – MS in einer neuen Perspektive

Die heutige Medizin definiert Multiple Sklerose (MS) als eine fokale entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, bei der das Vorhandensein entzündlicher Läsionen (die auf MRT-Scans des Gehirns zu sehen sind) definiert, ob die Krankheit aktiv ist oder nicht, und die klinische Klassifizierung, den therapeutischen Ansatz und die Prognose nach medizinischen Leitlinien bestimmt. Die Entzündung wird als Ursache für Rückfälle oder akute neurologische Verschlechterungen angesehen.

Das radiologische Kriterium zur Definition einer aktiven Erkrankung (und einer Entzündung) ist das Vorhandensein von kontrastverstärkenden Läsionen auf T1-gewichteten MRT-Bildern (Magnetresonanztomographie) oder von neuen Läsionen auf T2-gewichteten MRT-Bildern (oder die Verstärkung alter Läsionen).

Die klassische pharmakologische Behandlung zielt darauf ab, einen Zustand zu erreichen, der als NEIDA (no evident inflammatory disease activity) bezeichnet wird, d. h. das Fehlen aktiver Läsionen auf MRT-Aufnahmen des Schädels.

Studien zum Krankheitsverlauf

Studien, die den natürlichen Krankheitsverlauf (d. h. die Entwicklung der Patienten im Laufe der Zeit) untersuchen, zeigen jedoch, dass die fortschreitende Akkumulation von Behinderungen oft unabhängig von der Anzahl der Schübe seit Beginn der Erkrankung auftritt. Andererseits hat sich gezeigt, dass die Unterbrechung der entzündlichen Reaktivierung die Zunahme der Behinderungen nicht generell verhindert, was darauf hindeutet, dass andere pathologische Prozesse im Gehirn und Rückenmark zum langsamen Verlust der neurologischen Funktionen beitragen.

Klinisch lässt sich eine Verschlechterung des Behinderungsgrades (wie z. B. des EDSS) auch dann beobachten, wenn kein neues akutes oder schubförmiges Ereignis auftritt, d. h. selbst in Fällen, in denen die Krankheit nach den derzeitigen Kriterien „unter Kontrolle“ ist. Viele Patienten in diesem Zustand fragen sich: „Wie kann ich eine inaktive Krankheit haben, wenn ich eine fortschreitende Schwäche erlebe?“

Prof. Gavin Giovannoni (von der London Medical School) und seine Mitarbeiter haben eine sehr interessante Arbeit [1] veröffentlicht, die darauf abzielt, die derzeitige Auffassung zu ändern, die sich auf das Vorhandensein einer akuten fokalen Entzündung im ZNS konzentriert.

Neue Sicht: Entzündung als Folge statt Ursache

Die Forscher schlagen vor, dass die „echte MS“ durch einen latenten (chronischen, langsam fortschreitenden) Prozess verursacht wird, der von einer überlappenden akuten Entzündungsaktivität begleitet wird. Diese Entzündung stellt die Immunreaktion des Erkrankten auf die eigentlichen Ursachen der Krankheit dar.

Bei der Multiplen Sklerose handelt es sich demnach um einen fortschreitenden neuroaxonalen Verlust, der von Beginn der Krankheit an vorhanden ist. Was wir klinisch sehen, wäre eine sich überlagernde Wirkung von einem Entzündungsherd ausgehender Störungen auf ein Nervensystem, das bereits funktionell beeinträchtigt ist. Das neuroaxonale Verlust ist dann abhängig vom Ausmaß früherer pathologischer Beeinträchtigungen, von der kognitiven Reserve des Gehirns und von seiner Fähigkeit, die Funktion wiederherzustellen oder die entstandenen Schäden zu kompensieren.

Entgegen der bisherigen Auffassung stellen solche Entzündungsbefunde nicht die Krankheit dar, sondern sind lediglich eine Immunreaktion auf die bereits bestehende Krankheit selbst.

Um diese neue Theorie zu erklären, werden verschiedene Faktoren in Betracht gezogen:

Aus pathophysiologischer Sicht wird MS derzeit als eine Krankheit beschrieben, die durch äußere Veränderungen verursacht wird, die zu einer inneren Immunreaktion führen (Outside-in-Krankheit). Nach der neu vorgeschlagenen Theorie ist MS eine latente Veränderung, die innerhalb des zentralen Nervensystems beginnt, wobei jeder Entzündungsherd ein Phänomen ist, das die Zerstörung von Neuronen fördert, antigene Myelinfragmente freisetzt und die bestehende adaptive Immunreaktion aktiviert (Inside-Out-Krankheit).

Auch die pathologischen Befunde stützen diese Theorie, wenn entzündliche Infiltrate, axonaler Verlust und Demyelinisierung vom Früh- bis zum Endstadium der Krankheit vorhanden sind. Die pathologischen Veränderungen sind während des gesamten Krankheitsverlaufs die gleichen, nur das Ausmaß dieser Läsionen kann unterschiedlich sein (z. B. mehr Entzündung in frühen Stadien, mehr Verlust von Hirnvolumen in späten Stadien) – was für eine Kontinuität zwischen den schubförmigen und den fortschreitenden Phasen der Krankheit spricht.

Dies steht im Einklang mit epidemiologischen Beobachtungen, die zeigen, dass sowohl PPMS- (primär progrediente Multiple Sklerose) als auch SPMS-Patienten (sekundär progrediente Multiple Sklerose) in einem ähnlichen Durchschnittsalter eine klinische Progression aufweisen und eine ähnliche Häufung von Behinderungen erleben. Das heißt, die endgültige Behinderung der Patienten tritt bei den verschiedenen „Typen“ der Krankheit in ähnlicher Weise auf, was darauf hindeutet, dass es sich nicht um verschiedene Formen der Krankheit handelt, sondern um eine einzige latente Krankheit mit Phasen der Verschlimmerung.

Das radiologische Paradoxon, dass das Vorhandensein entzündlicher Läsionen auf der MRT des Gehirns den Grad der langfristigen Behinderung nicht vorhersagt, spricht ebenfalls dafür, dass die Krankheit in einer gemeinsamen Art auftritt und dass das Vorhandensein einer aktiven Entzündung nicht allein für den Verlust von Nervenzellen und das Fortschreiten der Krankheit verantwortlich ist.

Daraus folgt: Behandlungsschwerpunkt anpassen!

Mit diesem neuen Ansatz zum Verständnis von MS schlagen die Autoren eine einfache Richtungsänderung des Behandlungsschwerpunkts vor: Anstatt sich auf die Kontrolle der Ausbrüche und der fokalen Aktivität (Entzündungsherde) im MRT zu konzentrieren, sollten wir die Aufmerksamkeit auf die Prozesse lenken, die vermutlich für die latente MS verantwortlich sind. Und was könnten diese Faktoren sein?

Es wurde eine Reihe von Mechanismen als mögliche Ursachen für MS vorgeschlagen:

• Demyelinisierung

• Angeborene Immunität (Makrophagen/Mikroglia-Aktivierung)

• Adaptive Immunität (B-Zellen)

• Chronische oxidative Schäden

• Anhäufung von Mitochondrienschäden

• Altersbedingte Eisenanreicherung

• Energiedefizite

• Virusinfektion (Epstein-Barr-Virus und Humanes Endogenes Retrovirus)

Der Lebensstil taugt als Therapiekonzept

Unabhängig davon, welche Faktoren oder welche Erreger die MS verursachen, muss ein neues Therapiekonzept gesucht werden, das neben einer entzündungshemmenden Wirkung auch auf Neuroprotektion, Remyelinisierung und Neuroregeneration abzielt. Es ist daher klar, dass die Erhaltung der Gesundheit des Gehirns für die Kontrolle der Entwicklung einer latenten MS von wesentlicher Bedeutung ist.

Und wie können wir unsere Gehirngesundheit verbessern?

Durch eine Änderung des Lebensstils! Zur neuroprotektiven Behandlung gehören der Verzicht auf toxische Substanzen wie Alkohol und Tabak, regelmäßige körperliche Betätigung, ein qualitativ hochwertiger Schlaf, die Pflege der emotionalen Gesundheit, die Vermeidung von Infektionen (insbesondere Parodontitis) und eine gesunde Ernährung mit Schwerpunkt auf ketogener Ernährung, Fasten und Kalorienrestriktion. Und “last but not least” ein guter Vitamin-D-Spiegel und die Nutzung der gesundheitsfördernden Eigenschaften des Sonnenlichts.

Diese Behandlung sollte mit einer pharmakologischen Behandlung einhergehen, die sich nicht nur auf die Kontrolle der Entzündung, sondern auch auf die Remyelinisierung und die neuronale Erholung konzentrieren sollte.

Schlussfolgerung:

Es wird in dieser Studie eine neue Sichtweise vorgeschlagen, die von dem Grundsatz ausgeht, dass MS nicht als klinisch-radiologische Angelegenheit behandelt werden sollte, bei der der Schwerpunkt auf der Kontrolle der Entzündung liegt, sondern vielmehr als biologische Krankheit. Nach dieser Theorie ist Multiple Sklerose eine latente, chronische Krankheit mit fortschreitendem axonalen Verlust, die gelegentlich akute Entzündungsschübe aufweist. Diese Schübe stellen die Immunreaktion des Patienten auf die eigentlichen Verursacher der Krankheit dar.

Man könnte sie mit der Lepra vergleichen, bei der der Erreger M. leprae ist, aber das klinische Erscheinungsbild und die Entwicklung der Krankheit werden von der Immunreaktion des Patienten auf den Erreger bestimmt.

Damit wird wieder einmal deutlich, dass die Behandlung nicht nur auf die Kontrolle der Entzündung ausgerichtet sein sollte, sondern auch Maßnahmen umfassen sollte, die den Neuroschutz und die Remyelinisierung fördern und die Gesundheit des Gehirns erhalten.

Maßnahmen des Lebensstils bei der Kontrolle von MS sind von grundlegender Bedeutung, und das Ziel des Life-SMS-Projekts wird einmal mehr bekräftigt: die Verbesserung des Lebensstils für eine zielgerichtetere Behandlung von MS!


Referenzen:

[1] Giovannoni G, Popescu V, Wuerfel J, et al. Smouldering multiple sclerosis: the ‘real MS.’ Therapeutic Advances in Neurological Disorders. January 2022. doi:10.1177/17562864211066751 https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/17562864211066751

Photo by petr sidorov on Unsplash


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